Andy Hug – der Samurai mit den blauen Augen

Andy Hug im weissen Karate Kostüm

Foto: Nagao Susumu

Tokyo, 1996: 50 Millionen Zuschauer verfolgen in Japan den prestigeträchtigen K-1-Grand-Prix im Tokyo-Dome. 66‘000 Sitze sind ausverkauft. Kampfsport ist in Japan enorm prominent. K-1 ist seit 1993 eine japanische Kampfsportorganisation, die lange zu den wichtigsten MartialArts-Promotionen der Welt zählte. Im Ring stehen sich 16 der besten Kampfsportler der Welt gegenüber – unter ihnen Andy Hug.   Er steigt an diesem Abend dreimal in den Ring – und gewinnt. Er erhält einen Sieger-Scheck im Wert von 250‘000 Dollar. Vier Jahre später, nach dem tragischen Tod der Kampfsportlegende, klettert das Preisgeld des Grand Prix auf eine Million Dollar. Geradezu ungerecht: Die grössten Legenden sind oft die, die zu früh von uns gehen. Und manche Menschen werden erst nach ihrem Ableben berühmt. Nicht so bei Andy Hug – er war zu Lebzeiten schon eine Ikone, vor allem in Japan. Einst wurde er sogar vom japanischen Kaiser Akihito zum Dinner eingeladen. Doch wer war der «Blue-eyed Samurai» und wie gelang ihm eine solch beeindruckende Popularität, vor allem in diesem ostasiatischen Inselstaat? Wer Andy Hug war, wie er sich zur Kampfsportlegende emporarbeitete und warum er in Japan geradezu vergöttert wurde, erfährst du hier.

Kindheit und Jugend

Andreas Hug wird am 7. September 1964 in der Schweiz geboren. Sein Vater ist Fremdenlegionär in französischen Diensten, seine Mutter arbeitet im Gastgewerbe. Hugs Vater stirbt unter ungeklärten Umständen in Thailand, als Andy noch sehr jung ist. Seine Mutter bringt ihn und seine beiden älteren Geschwister zu den Grosseltern, wo sie fortan a u f w a c h sen. Andy ist noch immer kindlich, als auch sein Grossvater stirbt. Die meiste Zeit ihrer Kindheit verbringen Charly (gest. 2010), Fabienne und Andy bei Oma Fridi. Da ihr jüngster Enkel eine unbändige Energie hat, schickt ihn Oma Fridi ins Fussball- und Karatetraining. Vor allem beim Karate, dieser japanischen Kampfsportart, startet Andy durch. Mit 13 gewinnt er erste Turniere, mit 15 ist er bereits in der Nationalmannschaft. Nach der Schulzeit absolviert er eine Metzgerlehre, kann aber diesen Beruf nicht ausstehen. Sein Glück findet er im Kampfsport, den er schon als Jugendlicher auf internationalem Parkett wettkampfmässig betreibt.

Weg nach Japan

Mit 18 Jahren kommt der Metzgerlehrling zum ersten Mal nach Japan. Später erzählt er gerne Anekdoten über diesen ersten Besuch: «Wir trugen Sennenchutteli.» Die Japaner seien damals über die Weltgeschichte noch nich aufgeklärt gewesen. «Ohne Sennenchutteli hätten uns alle für Amerikaner gehalten und die waren damals wegen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki verhasst.» Das Sennenchutteli, ein in den Schweizer Alpen traditionelles Oberbekleidungsstück, galt ab den 70er-Jahren als Arbeitskleidung in der Tourismusbranche.

Andy Hug kämpft

Foto: Archiv

Vom Aussenseiter zur Legende

Zunächst sind die Japaner gegenüber dem Schweizer Kampfsportler skeptisch. Sie erschrecken wegen seiner Energie. Bei Andys zweitem Japan-Besuch stellen sie ihm an der Weltmeisterschaft im Karate erst einen 2,02 m grossen Russen, dann einen 2,04 m grossen Amerikaner entgegen. Rein körperlich betrachtet ist Hug mit seinen 1,80 m den Hünen unterlegen. Er gewinnt trotzdem beide Kämpfe. Im Finale ist er aber derart lädiert, dass er verliert. Andy Hug fühlt sich betrogen, dennoch bezwingt er mit Beharrlichkeit, überragender Beweglichkeit und überraschenden Taktiken zahlreiche japanische Gegner. Er ist fasziniert vom Land sowie von den Überlieferungen und Werten der Samurai. Deshalb fliegt er immer wieder hin. Er verinnerlicht deren Tugenden: Bescheidenheit, Disziplin, Wille und Durchhaltevermögen.   1987 wird er mit 23 Jahren Vizeweltmeister im Karate in der Sumo-Halle in Tokyo. Fünf Jahre später wechselt er von «Kyokushin Kaikan», einer Form des Vollkontakt-Karate, zur weiterentwickelten Form «Seido Kaikan» (mehr dazu in dieser Ausgabe auf Seite 11, «Das Ultimative Dojo – Kyokushinkai Karate Zürich»). Danach wird er in Japan endgültig zum Star. Im August 1992 wird er als erster Nicht-Asiate Weltmeister im Vollkontakt-Karate.   Andy Hug wird immer japanischer. «Ich sei einer von ihnen, sagen sie mir immer wieder». Im modernen Japan lebt er wie die alten Samurai gemäss ihren jahrhundertelangen Traditionen. Als einer der wenigen Nicht-Japaner trägt er auch offiziell den Titel eines Samurai und nimmt als Akteur an den traditionellen Zeremonien teil. An jedem Kiosk in Japan ist Andy Hugs Lebensgeschichte als Comic erhältlich. Auflage: über 6 Millionen Exemplare. Andys gefährlicher Fersenschlag, der «Andy-Kick», ist in Osaka Stadtgespräch.   Hugs Disziplinen sind Kickboxen und das Vollkontakt-Karate. An Karate fasziniert ihn, sich durchzusetzen. Behaupten musste er sich schon früh in seiner Kindheit und Jugend – auf seinem gesamten Weg zum Profisport. Andy Hug schafft es im Karate bis zum Weltmeister, doch das grosse Geld gibt es nicht im Karate, sondern im Thai-Boxen zu gewinnen. Nachdem er 1993 zum neugegründeten K-1 wechselt, feiert er weitere grosse Erfolge. K-1 ist die japanische Form des Thai-Boxens, die lange Zeit zu den bedeutendsten Martial-Arts-Promotionen der Welt zählte. Eine Kombination aus Boxen, Karate, Muay Thai, Taekwondo, Kickboxen, Savate und anderen Techniken des Kampfsports. Das K leitet sich von den Namen vieler Kampfsportarten ab wie Karate, Kung Fu, Kempo, Kickboxen. K-1 ist keine Kampfkunst. Es messen sich Vertreter verschiedenster Kampfsportarten. Alle halten sich an die gleichen Regeln. Gewichtsklassen gibt es keine.   Im K-1 feiert Hug einige Höhepunkteseiner Karriere: 1994 wird er Weltmeister und 1996 gewinnt er den anfangs erwähnten Grand-Prix in Tokyo. In der dritten Runde besiegt er den jugoslawischen Ex Weltmeister Branko Zikatic und gewinnt das Turnier.

In der Schweiz wenig bekannt

Als Andy Hug seine ersten grossen Erfolge international und vor allem in Japan feiert, ist er in der Schweiz noch kaum bekannt. Am Anfang seiner Kampfsportkarriere muss er noch als Metzger arbeiten, obwohl er den Beruf hasst. Um im eigenen Land etwas zu gelten, muss er den Umweg über Japan nehmen. Doch 1994 wird er bei seiner Rückkehr in die Schweiz als Weltmeister im K-1 erstmals wie ein Held gefeiert. Ab 1995 startet Andy endgültig in der Schweiz durch. Von Japan aus hat er endlich auch die Herzen in seiner Heimat erobert.   In Zürich füllt er sechsmal hintereinander das Hallenstadion. Sogar die Fussball-Nationalmannschaft verdrängt er von ihrem Sendeplatz. Am Samstagabend überträgt SRF Hugs Kämpfe live auf dem Hauptsender, die Fussballer auf dem zweiten Kanal. Andy Hug gewinnt auch das Quoten-Battle: Im Juni 1998 begeistert er über 540‘000 Zuschauer vor den TV-Geräten, während die Fussballer es gerade auf 340‘000 bringen. Am 3. Juni 2000 kämpft Hug zum letzten Mal in Zürich.

Andy Hug privat

1987 lernt Andy Hug bei einem Fotoshooting seine Frau Ilona kennen. Ilona arbeitet zu dieser Zeit als Model. Sechs Jahre später heiraten die beiden. Ihr Glück wird 1994 mit Sohn Seya gekrönt. Er kommt wenige Tage vor der Weltmeisterschaft im K-1 zur Welt, die Andy gewinnt und auch in der Schweiz zum Star macht.   Andy führt dazumal zwei Leben: Eines in Japan und eines in der Schweiz. Ab 1995 wohnt er mehrere Monate im Jahr in Osaka in bescheidenen Verhältnissen. Sein wenige Quadratmeter grosses Appartement ist nur mit Bett, Kleiderschrank, Kühlschrank und kleinem TV-Apparat ausgestattet. Bescheidenheit – eine Tugend der Samurai – findet er wichtig. Denn zu viel Luxus passt nicht zu einem Kämpfer, erzählt er in seiner Dokumentation. Dennoch zieht Andy wegen seiner Frau Ilona nicht für immer nach Japan. Dort ist er oft einsam, vermisst Freunde, Kollegen und vor allem seine Familie. In der Schweiz ist Hug sein eigener Trainer, doch in seinem Trainingszentrum in Osaka bekommt er von den Besten der Branche wertvolle Tipps. In der Schlussphase vor einem Kampf ernährt er sich vor allem mit Kohlenhydraten. Die japanische Küche, die geprägt ist von Reis und Fisch, eignet sich dafür hervorragend. Sein japanischer Manager, Kazuyoshi Ishii, ist für ihn eine Art Vaterfigur. «Mit Ishii kann ich über alles reden und er ist auch eine Leitfigur für mich.»   Heute lebt Andys Sohn Seya in Los Angeles. Der japanische Name «Seya» bedeutet «Heiliger Pfeil». Er ist verheiratet und betreibt wie sein Vater Kampfsport. Als Achtjähriger hat er mit Taekwondo angefangen, bestreitet allerdings keine Wettkämpfe. Stattdessen hat er sich den Traum verwirklicht, den auch sein Vater für die Zukunft hegte: Er lebt und arbeitet als Schauspieler, wobei ihm der Kampfsport hilft, sich auf seine Rollen vorzubereiten. Seya möchte mit seiner Mutter Ilona das Leben seines Vaters verfilmen. Er denkt jeden Tag an ihn und möchte ihn stolz machen. Hier seine beiden Instagramseiten: martialartswithseya und seyahug.

Der frühe Tod

Auch der Tod von Andy Hug gehört zur Geschichte des legendären Kämpfers. Er verdeutlicht nochmals, welchen Status Hug besonders in Japan genoss. Bereits im April 2000 klagt Andy über Müdigkeit und rote Flecken am Körper, als er in Osaka kämpft. Er deutet die Symptome als eine Lebensmittelvergiftung – wegen eines verdorbenen Fisches vielleicht. Nach seinem letzten Auftritt in Zürich steht Hug Anfang Juli auch in Japan zum letzten Mal im Ring. Nach 91 Sekunden gewinnt er durch K.O.   Den geplanten Auftritt in Las Vegas im Oktober sagt er ab, weiss er doch in zwischen, dass etwas nicht stimmt. Am 17. August erhält er die Diagnose akute myeloische Leukämie: Blutkrebs. Die Anzahl der weissen Blutkörperchen hat sich in seinem Körper bereits vervielfacht, die Ärzte beginnen zwei Tage nach dem Befund eine Chemotherapie. Dann geht es schnell: Andy Hug fällt ins Koma und stirbt am 24. August 2000 in Tokyo 36-jährig. An der Trauerfeier im Tokyoter Stadtteil Gotanda nehmen 12‘000 Japaner teil. Der mit dem Karate-Kimono bekleidete Leichnam in weissem Sarg wird in einem schwarzen Leichenwagen vorgefahren. Auf seinem Herzen liegt ein Foto seines Sohnes Seya, rechts auf seiner Brust eines seiner Frau Ilona. Der Sarg wird von Andys Kämpferkollegen getragen. Hugs letzte Reise führt ins Krematorium. Seine Asche wird auf dem Friedhof des Hoshuin-Tempels in Kyoto aufbewahrt.

Andy Hugs Vermächtnis

Andy Hug setzte alles daran, die asiatische Kampfkunst in Europa beliebt zu machen und zu verbreiten. Er zog alle Register, damit auch Nicht-Asiaten in asiatischen Kampfsportarten erfolgreich sein können. Er schaffte damit neue Möglichkeiten für Menschen verschiedenster Herkunft, die den asiatischen Kampfsport betreiben möchten. Andy Hug machte Karate zu dem, was jeder Sport sein sollte – eine Sprache, die Grenzen überwindet, ungeachtet der Herkunft, Hautfarbe oder Ethnie. Oder wie er es selbst formulierte: «I believe that fighting-sport is for the world.» – «Ich denke, dass Kampfsport für die Welt ist.»     Autor: Nina Schäfer   Quellen: Andy Hug | Schweizer Kampfsport | SRF Archiv; Andy Hug – Vom Rocky zum Samurai (1995) – DOCU w. ENG SUB; KampfsportStar Andy Hug feiert 1996 den grössten Erfolg seines Lebens (watson.ch); Kickboxen: Heute vor 20 Jahren stirbt Andy Hug, Blick; 10. Todestag des Karate-Weltmeisters Andy Hug, Bilder seines Lebens | Schweizer Illustrierte (schweizer-illustrierte.ch);Seya Hug: Andy Hugs Sohn startet in Hollywood durch | Schweizer Illustrierte (schweizer-illustrierte.ch)